Wie Mann und Frau ihren Alltag trotz Demenzerkrankung bewältigen

Zeitungsartikel aus der „Tageszeitung Dolomiten“ vom 17.09.2020

Ulrich Seitz: Viel Schatten rund um den Weltalzheimer-Tag in Südtirol: obwohl bereits im Jahre 2016 im entsprechenden Landesgesundheitsplan vorgesehen, ist bis heute der versprochene Demenzplan in Südtirol immer noch nicht verabschiedet worden.

Die Wartezeiten für Erstvisiten und programmierte Fachvisiten für Betroffene im Südtiroler Sanitätsbetrieb, waren bereits vor der Corona Pandemie (Jänner 2020) auf einem Rekordstand. Inzwischen wurden die wenigen Angebote, Corona-bedingt entweder „eingefroren“ bzw. ausgesetzt. Tausende von Patienten warten auf Leistungen, die bereits seit mehreren Monaten vorgemerkt sind.

Es gibt kaum Nachwuchspersonal für sanitäre und soziale Dienste, welches spezialisiert auf die Bedürfnisse der Demenzkranken im Lande ist. Bei der Facharztausbildung gibt es kaum SüdtirolerInnen, die hier nachrücken.

Es wurde richtigerweise den fix angestellten „Helden“ in den öffentlichen Strukturen für deren Einsatz in der Corona-Pandemie gedankt. Die ASAA dankt heuer aber vor allem auch ganz bewusst den „Helden in der Familie“, die unter erschwerten Umständen (finanziell, klinisch bedingt durch fehlende Angebote), die Betreuung von mehreren Tausend Betroffenen im Lande, auch während des „Lockdown“, garantiert haben. Wäre nur ein geringer Anteil dieser Fälle noch auf den öffentlichen Gesundheitsdienst im Frühjahr zugekommen, wäre es zum totalen Kollaps gekommen.

Und schließlich: überraschend ist bei der Beobachtung der verschiedenen Programme der Parteien im Gemeindewahlkampf, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr oft gefordert wird, aber vor allem auf die Hilfen bei der Kinderbetreuung ausgerichtet ist. Viele Familien sind jedoch bei der Assistenz und Begleitung von Pflegefällen immer öfters total überfordert.

Fragen und Antworten von Helga Rohra

  • Wie haben sie den Lockdown erlebt, Frau Rohra?

Ein Lockdown ist ähnlich wie die Mitteilung einer Demenzdiagnose

  • Unsicherheit, wie es weitergeht im Leben
  • Das Umfeld zieht sich zurück und hat eine diffuse Angst.
  • Das Schlimmste im Lockdown ist die Isolation und die Einsamkeit. Alle sozialen Kontakte, die mich tragen in meiner Demenz, fallen auf einmal weg.
  • Demenz und Reisen, ist das überhaupt möglich?
    • Natürlich ist es möglich, wenn die Schaffner am Bahnhof oder das Flughafenpersonal auch für Menschen mit kognitiven Einschränkungen geschult werden.
    • Allgemein besteht die Möglichkeit nur für MOBILITY ASSISTANCE: das bedeutet, ich werde in einen Rollstuhl gesetzt. Menschen mit Demenz brauchen keinen Rollstuhl, sondern eine achtsame Begleitung.
  • Das Tabu im Tabu: junge Menschen mit einer Demenzerkrankung. Warum tut sich die Gesellschaft damit besonders schwer?
    • Die Gesellschaft tut sich besonders schwer, weil sie nur das Bild eines alten, verwirrten und hilflosen Menschen kennt.
    • Die Medien bringen primär Stories von der letzten Phase einer Demenzerkrankung, die eindeutig berührend und erschütternd ist.
    • Wir brauchen mutige, offene Journalisten, die jüngere Menschen mit Demenz porträtieren und auf deren noch vorhandene Ressourcen hinweisen.
  • Umgang mit Demenz – wie kann man positive und schöne Aspekte in diesem Zusammenhang finden?
    • Eine Demenz heißt in der Anfangsphase der Erkrankung und in einem jüngeren Alter, ein neues Leben.
    • Dies bedeutet, andere Prioritäten im eigenen Leben zu setzen, sich selber neu zu entdecken und sich auf die Menschen im persönlichen Umfeld zu fokussieren.
    • Man lebt intensiv im „jetzt“.
  • Ihre Erfahrung, Frau Rohra: Was erleichtert den Umgang mit Demenzkranken?
    • Den Umgang erleichtert ein Wissen über Demenz mit Hinweis, dass jeder Demenzerkrankte nicht nur von der Krankheit betrachtet werden darf.
    • Menschen mit Demenz gehören in die Mitte der Gesellschaft und dieser Umgang mit uns sollte völlig normal sein: angstfrei und auf Augenhöhe.
    • Wir Demenzerkrankte tragen zu einer neuen Kultur des Miteinanders bei.
  • Welche konkreten Hilfen können, Ihrer Meinung nach von Vereinen wie der Alzheimervereinigung Südtirol ausgehen?
    • Die Alzheimervereinigung Südtirol schafft es, den Menschen mit Demenz und den Angehörigen von Anfang an in die Programmgestaltung des Vereins mit einbeziehen.
    • Die Angebote der ASAA (ob es Schulung, Beratung, finanzielle Hilfestellungen /Workshop sind)  verfolgen nicht nur die Aufgabe der Information am Bürger, sondern berühren auch und beziehen den Menschen mit Demenz als Partner ein.
    • Freizeitaktivitäten sollten für alle sein: Menschen mit und ohne Demenz: natürlich unter einem Motto und der Schirmherrschaft einer bekannten Persönlichkeit, die sich mit dem Thema identifiziert.
    • Im öffentlichen Leben sollten Banken, Verkehrsbetriebe, Geschäfte, Polizei, etc. über das Bild der Demenz geschult werden.
    • Der Grund-Tenor muss immer sein: „Let´s do it trotzDEM“ (das Motto meiner Vorträge).

Helga Rohra
Autorin & Demenzaktivistin
EU Dementia Award
Demenzbotschafterin
WHO – Expert-Panel

www.trotzdem.org