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Wenn Einsicht fehlt und der Zorn wächst

Ulrich Seitz, Präsident der Alzheimervereinigung Südtirol, schlägt Alarm: Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen und für deren Familien ist der Alltag nach wie vor mit größten Schwierigkeiten verbunden.

Interview an Präsident Ulrich Seitz – „Südtiroler Frau“ Juliausgabe 2020

 

Sie haben während des Lockdowns persönlich am Nottelefon der Alzheimervereinigung geantwortet. Was waren die größten Sorgen der betroffenen Familien?

Ulrich Seitz: Die größten Sorgen waren die Hilflosigkeit sowie die Ungewissheit, wie es weitergehen wird. Ich hatte teilweise vor allem am Wochenende 30 Anrufe pro Tag aus dem ganzen Land. Vor allem betroffen haben mich die Schicksale von älteren Menschen, die einen kranken Partner bzw. eine demente Person daheim pflegen, und eben selbst mit erheblichen Einschränkungen leben müssen. Sehr traurig sind auch Situationen, wo Kinder oder engste Verwandte, die nicht in Südtirol leben, über Monate keinen Zugang zu ihren Eltern hatten. Was mich neben der klinischen Situation getroffen hat, sind ebenso Fälle von älteren, einsamen Menschen, die in der ersten Phase aus Verzweiflung heraus, Opfer von Neppern, Schleppern und Bauernfängern wurden. Fälle von Betrügereien also, die aus Scham kaum oder viel zu spät den zuständigen Behörden gemeldet werden. Und dann natürlich auch der Umstand, dass Menschen ihre langjährigen Bezugsmenschen in der Pflege, vor allem ausländische verloren haben, da diese schlagartig vor der Schließung der Grenzen in ihre Heimat zurückgekehrt sind.

Was belastet diese Menschen heute, also in der zweiten Phase der Pandemie?

Ulrich Seitz: Tageskliniken und Gruppenangebote fehlen, wo Angehörige die Menschen mit Demenz für kurze Zeit abgeben konnten und einen Moment Ruhe hatten, um durchzuatmen und neue Energie zu tanken. Noch einschneidender sind aber die Freiwilligen, die in spezifischen Angeboten wegfallen. Vor dem Lockdown haben Personen von einer Art Begleitdienst bzw. Vereinen den Partner/die Partnerin vielleicht zweimal in der Woche für einen Spaziergang oder eine gewisse Betreuung abgeben können. Viele dieser Dienste sind momentan auf Eis gelegt. Zudem sind im Ehrenamt unzählige Freiwillige pensioniert und gehören oftmals selbst zur Risikogruppe. Die größte Herausforderung ist deshalb dieses ständige Aufeinandersitzen.
Ist jemand sehr stark erkrankt, versteht er das Problem gar nicht. Ich habe aber vor allem mit Menschen zu tun, die zu Hause leben und noch nicht so stark betroffen sind. Ihre Angehörigen erzählen mir, sie müssten dieselben Fragen zum neuen Alltagablauf, beispielsweise, wenn es um Sicherheitsmaßnahmen geht, 100-mal am Tag beantworten.

Wie besorgniserregend ist ihre Situation?

Ulrich Seitz: Die Situation ist besorgniserregend. Mir erzählen ganz viele Angehörige, dass sie in den vergangenen Wochen irgendwann einmal ausgeflippt sind, die Tür geknallt oder ausgerufen haben. Wenn man gar nie Abstand voneinander hat, kann man schon einmal explodieren. Vor dem Lockdown konnten sie ihre Partner einen Moment allein zu Hause lassen und an die frische Luft gehen oder Freunde auf einen Kaffee treffen. Dieser Ausgleich und Austausch fehlen jetzt. Gewalt und Konflikte sind derzeit sicher ein größeres Thema. Weil dieses Verhalten mit sehr viel Scham besetzt ist, gehe ich von einer riesigen Dunkelziffer aus. Ich vermute, dieses Phänomen dringt erst an die Oberfläche, wenn sich die Situation um das Virus wirklich entspannt hat.

Wie viele Menschen leiden in Südtirol aktuell an Demenz? Wie viele davon werden zu Hause betreut?

Ulrich Seitz: Leider haben der Sanitätsbetrieb und die Landesabteilung Gesundheit noch immer nicht einen Landes-Demenzplan verabschiedet, so wie dies eigentlich im Landesgesundheitsplan 2017-2020, mit entsprechendem Beschluss der Landesregierung vorgesehen ist. Wir sind darüber als Alzheimervereinigung sehr enttäuscht. Deshalb mussten wir selbst eine Art „Beobachtungsstelle“ einrichten, und gehen von rund 13.000 Südtirolern aus, die von Demenz oder Demenz ähnlichen Pathologien betroffen. Rund 75-80% aller Betroffenen werden über Jahre zu Hause gepflegt. Die durchschnittliche Pflegezeit liegt zwischen 5-7 Jahren.

Wie geht es jenen Alzheimerpatienten, die in Seniorenheimen oder anderen Einrichtungen untergebracht sind?

Ulrich Seitz: Hier erlaube ich mir als ehrenamtlicher Präsident der Alzheimervereinigung und ebenso als Präsident des Seniorenwohnheims „Pilsenhof“ in Terlan, Stellung zu beziehen. Viele Betroffene sind völlig verwirrt und erschrocken. Hoch Betagte fühlen sich in die Kriegszeiten zurückversetzt. Sie sehen MitarbeiterInnen, die seit Monaten mit Masken und Schutzanzügen bekleidet sind und haben keinen Kontakt mit ihren Familien. Es ist äußerst belastend, da auch kaum fachärztliche Leistungen in Südtirol,

Ich zitiere Sie: Derzeit warten in Südtirol rund 4000 Menschen, die an Demenz leiden, auf einen Arzttermin. Eine dramatische Bilanz. Was muss hier passieren?

Ulrich Seitz: Bereits vor dem Lockdown mussten Frau und Mann in Südtirol auf eine geriatrische Erstvisite zwischen 6 und 8 Monate warten. Für uns ein untragbarer Zustand. Dazu kommt, dass die Demenz in Südtirol, eine Pathologie darstellt, die anscheinend hauptsächlich von Geriatern, von denen es zudem noch wenige gibt, versorgt werden. Die Ausnahmesituation in den letzten Monaten zeigt, dass es aber nun unnütz ist, Schuldzuweisungen vom Sanitätsbetrieb an die Seniorenwohnheime oder umgekehrt, zu machen, vielmehr besorgt es mich als Präsident der Alzheimervereinigung, dass es in Südtirol ein Ding der Unmöglichkeit scheint, dass Demenzkranke Abteilungsübergreifend behandelt werden. Es ist kein Zusammenspiel zwischen Geriatrie, Neurologie, Physische Rehabilitation, Psychologischer Dienst, Psychiatrie im Krankenhaus vorhanden, und in der Folge auch nicht mit den sozialen Trägern. Ein weiteres Problem besteht im Vormerksystem für Arztvisiten. Viele Personen sind seit Monaten für Arzttermine in der Liste, mit teils überholten Verschreibungen, nicht mehr überwachten Therapieplänen sowie zusätzlichen Schwierigkeiten, die weder der Allgemeinmedizin noch den Spezialisten, bekannt sind. Erstaunlich ist ebenso, dass es Menschen gelingt, sich für die ein und dieselbe Visite in mehreren öffentlichen Krankenhäusern vorzumerken. Das führt dann verständlich zu weiteren organisatorischen Problemen. Während die vertragsgebunden Privatmedizin in vielen anderen Bereichen einen gewissen Druck abnimmt, fehlt hierzu ein landesweites Konzept. Wir machen uns noch zudem große Sorgen, um den Ärztenachwuchs. Es sind uns kaum Südtiroler bekannt, die in den nächsten Jahren in die zitierten Fachgebiete mit Spezialisierung Demenzerkrankungen einsteigen. Ein immenses Ärgernis bleibt, dass programmierte Visiten immer wieder trotz klarer Vorgaben der Landesregierung nicht von den zuständigen Fachabteilungen vergeben werden, sondern immer wieder andere aufwändige, teils sinnlose Kanäle notwendig sind, was sehr schade ist.

Wie hat die Vereinigung auf die anhaltende Notlage reagiert?

Ulrich Seitz: Wir haben sehr intensiv in diesen Monaten an neuen Betreuungsangeboten gearbeitet. Ich möchte in diesem Zusammenhang erinnern, dass unsere Grüne Nummer nun seit März 7 Tage in der Woche jeweils von 7 Uhr bis 22 Uhr aktiv ist, auch weil wir unsere Bürotätigkeit einschränken mussten, und am Sitz erst wieder seit Kurzem Interessierte, begrüßen dürfen. Die Grüne Nummer ist jedoch die Garantie, dass uns kein Hilferuf entgeht und wir umgehend antworten können. Wichtig war für uns in der Vereinigung den psychologischen Betreuungsdienst, gerade für betroffene Familienangehörige auszubauen, die Corona-Pandemie unter dem Gesichtspunkt des Verlustes eines lieben Menschen und zudem Trauer zu thematisieren. Dazu gibt es spezifische Hilfestellungen. Ganz wichtig sind aber ebenso die Screenings, wo wir uns mit Fachleuten am Vereinssitz, komplizierte Verdachtsfälle anschauen, und überprüfen ob eine Demenz oder bipolare Störungsbilder vorliegen. Stolz sind wir schließlich darauf, dass wir nun endlich neben Bozen, Meran, Klausen, dem Vinschgau und Passeier, auch regelmäßige Beratungsdienste in Brixen sowie Sterzing gewährleisten können. Unsere Freiwilligen aus Klausen sind zudem Expertinnen in der Validation und können Hausbesuche vornehmen, was in besonderen Situationen eine große Erleichterung für Familien bedeuten kann. Herzensangelegenheiten bleiben die Schwerpunkte „Lebensqualität zu Hause“, wo wir Beratungen unterschiedlicher Natur ermöglichen oder des Weiteren die Weiterbildungen/Workshops für Pflegende und ausländische Hilfskräfte, die wir regelmäßig umsetzen.

Und worauf müssen die betroffenen Familien jetzt besonders achten?

Ulrich Seitz: Die Angehörigen sind dauernd hinter ihren Partnern her: «Du musst die Hände waschen!» Diese fragen dann verblüfft: «Wieso? Sie sind doch gar nicht schmutzig.» Viele verstehen auch nicht, wieso die Enkelin oder die Tochter nicht mehr zu Besuch kommt. Dieses Unverständnis führt oft auch zu Konflikten.
Deshalb folgende konkrete Tipps:
Die Phase 2 bringt nun verschiedene Änderungen mit sich, die das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität beeinträchtigen können, wenn sie nicht rasch und sorgfältig angegangen werden. Deshalb ist es wichtig, die älteren Menschen und ihre Angehörigen in dieser Phase der schrittweisen Öffnung zu unterstützen und sie bei der fortschreitenden Wiederaufnahme zu begleiten, um Befürchtungen und Ängste abzubauen.
Ältere Menschen sollten sich auf positive Themen konzentrieren können, die nicht mit den unangenehmen Ereignissen um den Virus zusammenhängen (wie die Zunahme der Ansteckungen, der Todesopfer usw.) und dabei unterstützt werden, zur alltäglichen Routine und zu den Interessen zurück zu finden, denen sie noch nachgehen können. Außerdem ist es von grundlegender Bedeutung, ihnen zu helfen, korrekte Verhaltensweisen zum Schutz der eigenen Gesundheit einzuhalten.
Zudem kann es nützlich sein, die Senioren zu Tätigkeiten anzuregen, die ihnen sonst immer mehr abhanden kämen; dazu ist ihnen entsprechende Zeit zu widmen, damit sie sich selbst nützlich und wichtig fühlen können.
Auch das Thema der Trauer und des Lebensendes verdient einen Hinweis, ein Anliegen, das die Senioren oft äußern und das gerade in dieser Zeit der Unsicherheit und Instabilität wieder auftauchen könnte. Ältere Menschen haben nämlich das Bedürfnis, von ihrer eigenen Auffassung vom Leben und seinem Ende zu sprechen, um dessen Ablauf aufzuarbeiten und den früheren oder vor kurzem erlebten Verlusten eine Bedeutung zu verleihen. Angehörigen kann es Schwierigkeiten bereiten, solche Themen mit den eigenen Lieben anzugehen, aber eine offene, dialogbereite, aufgeschlossene Haltung des Zuhörens kann ihnen dabei behilflich sein.

 

Für Notfälle
Alzheimervereinigung ASAA
Grüne Nummer 800 660 561

info@asaa.it
täglich 7 bis 22 Uhr