von Monika Kripp: Mitglied im Fachbeirat von ASAA und Validationstrainerin
Demenzbetreuung, Versorgung und Begleitung in Zeiten der Corona-Krise
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Sehr geehrte Menschen mit Demenz, sehr geehrte Angehörige von Menschen mit Demenz!
Wir alle finden uns durch die Ausbreitung des Corona-Virus in einer Lage, wie wir sie noch nicht erlebt haben. Wir alle schränken unsere direkten Kontakte ein und versuchen mit den Veränderungen umzugehen und reagieren mit unterschiedlichen Strategien auf diese Krise. Ich möchte Sie in dieser schwierigen Zeit durch Informationen und Tipps unterstützen, den Alltag und die Beziehung zueinander stabil und tragfähig zu halten.
Ich versichere Ihnen, dass ich auf diese Weise an Sie alle denke, und mich mit Ihrer Situation solidarisch zeige und mir Ihre Herausforderungen bewusst sind.
Sie als Angehörige von Menschen, die zwar die allgemeine Bedrohung durch den Virus und die Angst und Verunsicherung sowie das Eingesperrt sein mit Ihnen spüren und teilen, aber die sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht akzeptieren können, die angeordneten Maßnahmen nicht umsetzen, weil sie sie sich nicht merken können, weil die Fähigkeiten Situationen und Bedrohungen richtig zu beurteilen eingeschränkt sind, stehen unter besonderem Druck.
Die Verantwortung für die Betroffenen in der Isolation und die Alltagsbewältigung ohne Unterstützung durch andere Familienmitglieder, Freunde, Bekannte oder professionelle Dienste belasten Sie jetzt in besonderer Weise. Mit möglichen Folgen wie Stress und Aggressionen ist zu rechnen.
Sie schlafen möglicherweise schlecht, sind erschöpft, mut- und kraftlos oder verzweifelt? Wie schaut es bei den Betroffenen aus? Nicht viel anders, aber ihnen fehlt Ihre Fähigkeit, Impulse zu unterdrücken, wie zum Beispiel einfach davon zu laufen. Auch können Betroffene oft nicht mehr wie früher sprechen und ihre Gefühle und Bedürfnisse mitteilen. Bei fortgeschrittener Demenz schränkt sich die Selbstkontrolle wie die Anpassungsfähigkeit zunehmend ein und die Erfüllung eines Bedürfnisses kann nicht aufgeschoben werden, es „muss sofort etwas passieren“. Dazu kommt, dass sich Menschen mit Demenz je nach Beeinträchtigung nicht in Ihre Lage hineinversetzen können, sie verstehen können.
Menschen (mit Demenz) verfügen über individuelle Strategien und reagieren unterschiedliche auf Bedrohungen, Verunsicherung, Angst, Schmerz, Langeweile, Kontrollverlust, Orientierungslosigkeit, Leidensdruck, Eingesperrt Sein, Abhängigkeit und Stress.
Veränderte Verhaltensweisen von Menschen mit und ohne Demenz – ein Weg sich verständlich zu machen: Depressive Stimmungsveränderungen, Wahn, Reizbarkeit, Energielosigkeit, Weglauftendenzen und Schutzsuche, Aggressionen, aggressive Ausbrüche oder Rückzugstendenzen, Antriebslosigkeit oder Hyperaktivität, Klammern, Essstörungen und verstärkte motorische Unruhe, Schlafstörungen bzw. Umkehr des Tag/Nacht-Rhythmus.
Wichtig: Jedes Verhalten hat einen oder mehrere Gründe oder Ursachen!
- Um sich Abzulenken von innerer Unruhe, Stress abzubauen
- Um sich von Schmerzen oder anderen Belastungen zu befreien
- Um sich zu Trösten
- Um Gefühle auszudrücken oder abzubauen
- Um in Sicherheit zu gelangen
- Um sich zu spüren
- Um sich wieder auszukennen so wie es früher war
- Um sich zu verteidigen
Biologische Faktoren:
Veränderungen und Abbauprozesse im Gehirn bewirken bei den meisten Menschen mit Demenz eine veränderte Wahrnehmung der Realität. Demenz als häufige Erkrankung des höheren Alters bedeutet, dass auch andere altersbedingte Beschwerden (Arthritis, Rückenschmerzen, Gehbeeinträchtigungen, Probleme mit dem Sehen und Hören, Schwindel, Verstopfung, Schlafstörungen) und körperliches Missbehagen ursächlich an veränderten Verhaltensweisen beteiligt sind. Infektionen, Hunger/Durst, Vergiftung durch Alkohol, Medikamente oder andere Substanzen sowie Müdigkeit oder Wetterumschwünge können ebenfalls ursächlich wirken.
Psychische Faktoren:
Die jeweilige Persönlichkeit und Biografie der Betroffenen sowie der individuelle Umgang mit Schwierigkeiten im Leben können Anhaltspunkte für die Erklärung von bestimmten Verhaltensweisen, Emotionen und Strategien geben.
Soziale Faktoren:
Die Umgebung spielt eine große Rolle und beeinflusst das Wohlbefinden je nach Hilfsbedürftigkeit maßgeblich: Temperatur, Licht, Geräusche, Beengtheit – Bewegungsfreiheit, Rückzugsmöglichkeiten. Wie viele Personen gehören zu meinen Kontakten? Wer ist konstant als Gegenüber für mich da? Wer schaut mich an und hört mir zu? Welche Leistungen kann ich als Betroffene oder Betroffener selber erbringen, kann aktiv sein und bekomme dafür Lob und Anerkennung?
Was jetzt hilft:
Finden Sie eine passende Tagesstruktur und behalten Sie gewohnte Routinen so weit erlaubt bei, die auch für Sie als Angehörige eine Pause ermöglichen. Z.B während des Mittagsschlafes oder in der Früh je nach Neigung und Möglichkeit. Nützen Sie diese ganz bewusst zum Durchatmen. Tun sie sich etwas Gutes und belohnen Sie sich.
Überschaubares und Gewohnheiten geben uns Halt. Ein Schritt nach dem Anderen kann hilfreich sein, statt in Gedanken schon 3 Erledigungen weiter zu sein. Konzentrieren Sie sich auf das, was gerade ansteht. Finden Sie Tätigkeiten, die die Betroffenen ausführen können: Tisch decken, Geschirr waschen, Wäsche zusammenlegen, Servietten falten, alles ohne Zeitdruck und mit einem Lob und Dank als Anerkennung.
Kraft schöpfen gelingt beim Meditieren oder beim gemeinsamen Gebet, da der Messbesuch im Moment nicht möglich ist. Wiederholen Sie so oft es geht ermutigende Sprüche wie z.B. Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Psalm 23,1
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Psalm 121:1-2
Oder machen Sie einen bewussten Blick aus dem Fenster und schauen auf den Himmel und die Natur und genießen die beginnende Blüte und das zarte Grün als hoffnungsspendende Kraft des Frühlings. Schreiben Sie Erbauliches und Stärkendes auf: Alles im Leben geht vorüber, auch diese schwierige Zeit!
Halten Sie fixe Zeiten für Radionachrichten oder Fernsehsendungen ein. Lassen Sie angesichts der belastenden und beängstigenden Nachrichten das Radio oder den Fernseher nicht dauernd eingeschalten. Wählen Sie eine Sendung bewusst zu einer bestimmten Zeit und schalten dann wieder ab.
Achten Sie auf Bewegungsmöglichkeiten im Sitzen oder mit den Händen: Knöpfe, Wolle oder Fadenspulen farblich sortieren.
Geben Sie trockene Bohnen/Reis/Nudeln oder Linsen in eine Schüssel und verstecken kleine Alltagsgegenstände wie einen Fingerhut oder Schlüssel, einen Stift oder Münzen darin und suchen Sie gemeinsam nach den Gegenständen. Benennen Sie diese. Vorsicht: Gegenstände können in den Mund oder die Nase gesteckt werden, daher sollten diese Tätigkeiten nur gemeinsam ausgeführt werden!
Abzählreime für die Finger können ebenfalls anregen, die Finger zu bewegen:
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben,
Ein Tiroler hat geschrieben:
„Liebe Mutter sei so gut,
schick mir ein Tirolerhut.
Nicht zu groß und nicht zu klein,
denn er soll zur Hochzeit sein.“
Eins, zwei, drei und Du bist frei.
Beziehungspflege: Finden Sie Möglichkeiten sich und Ihre Person mit Demenz zu belohnen. Eine Hand halten oder Streicheln, ein liebes Wort oder ein Lächeln, gemeinsames Singen, Tanzen oder Schunkeln hebt ebenso die Stimmung wie Fotos anschauen, ein Stück Schokolade oder das Haustier streicheln. Erinnern Sie an Vergangenes aus der Lebens- und Familiengeschichte, dass es früher schon schwere Zeiten gegeben hat und diese auch überstanden wurden. Was alles getan wurde um sich und anderen zu helfen….
Halten Sie regelmäßig telefonischen Kontakt zu Ihnen nahestehenden Personen. Verwandte, Bekannte, Freunde und Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen oder die vielen Initiativen der Hilfsorganisationen, die verstärkt Telefongespräche anbieten. Diese Gespräche können Sie entlasten und ablenken.
Kritische Situationen entschärfen:
- Nehmen Sie Anschuldigungen und Abwehrverhalten nicht persönlich – bleiben Sie ruhig. Sagen Sie innerlich ‚Stopp‘ und ihren Vornamen und atmen Sie 3x tief durch bevor Sie reagieren, sagen Sie, dass Sie eine Pause brauchen. Gehen Sie aus der Situation oder aus dem Zimmer, um klare Gedanken zu fassen und den Puls/Herzschlag wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Strecken Sie beide Arme über ihren Kopf und schauen Sie nach oben. Versuchen Sie mit einem Schnaufen auszuatmen. Ein Blick zum Fenster hinaus, bei dem Sie bewusst wahrnehmen, was Sie sehen hilft aus den starken Gefühlen auszusteigen. Dann die Mundwinkel wie beim Lachen nach oben ziehen, es darf eine Grimasse werden, Sie tun sich und den Angehörigen etwas Gutes!
- Diskutieren und Zwang bringen in der Regel nichts.
- Setzen Sie Grenzen wo es notwendig ist – bei Selbst- oder Fremdgefährdung.
- Lenken Sie von einer kritischen Situation ab oder lassen Sie die Sache für den Moment auf sich beruhen.
- Stolperfallen beseitigen, für ausreichende und gute Beleuchtung sorgen – das Licht von Fernseher und Computer können besonders abends die Unruhe fördern. Hören Sie lieber Musik oder lesen Sie etwas vor.
- Machen Sie mit, wenn Sinnestäuschungen und angstauslösende Dinge geschildert werden, die Sie nicht wahrnehmen. Korrigieren Sie nicht, sondern akzeptieren sie diese Wahrnehmung und unterstützen Sie je nach Situationen „durch Spinnen entfernen, Zwerge mit Essen versorgen um sie freundlich zu stimmen, mit Straßenkleidern oder Gummistiefeln/Handschuhen ins Bett gehen lassen bei Angst vor Stromschlägen und ähnlichem.“
- Finden Sie etwas zum Lachen, eine komische Geschichte, einen Witz, oder eine Komödie im Fernsehen. Humor ist eine wichtige Stütze im Alltag mit Menschen mit Demenz. Gemeinsam lachen, nicht andere auslachen.
- Bei Angriffen schützen Sie sich mit einem Polster vor Verletzung und versuchen Sie in ein anderes Zimmer zu gehen.
Rufen Sie Notfallnummern, wenn Sie Hilfe brauchen!
Weg- oder Hinlauftendenzen oder ruheloses Umhergehen in Zeiten von Bewegungseinschränkungen:
Das Weglaufen oder Entweichen von Menschen mit Demenz ist gerade jetzt eine große Herausforderung. Die Betroffenen sind sich der aktuellen Situation nicht bewusst und auch nicht der damit einhergehende Gefährdung. Sie wollen die gewohnten Gänge zum Einkaufen, zur „Arbeit“, zu den Kindern, in die Messe oder auf den Friedhof beibehalten.
Vielleicht fühlen sie sich zu Hause richtigerweise eingesperrt und wollen davor davonlaufen. Vielleicht haben sie auch das Verlangen, den Kindern, Eltern oder Tieren in dieser bedrohlichen Zeit beizustehen bzw. Schutz zu suchen.
Als Reaktion auf die eingeschränkte Bewegungsfreiheit ist dieses Verhalten verständlich. Die Kontrolle über das „Flucht- oder Schutzverhalten“ geht verloren, dem Impuls wird nachgegeben.
Fragen Sie die Person, die das Haus verlassen möchte, wo sie hinmuss und hören Sie genau zu, was sie sagt. Wenn Sie mit ihr über den Ort und die Erinnerungen daran sprechen, kann sie sich beruhigen.
In dieser Notfall- und Ausnahmesituation kann es helfen, die Haustüre zu versperren und den Schlüssel abzuziehen. Aber Achtung, im Falle eines Feuers sollten die Ausgänge nicht verbarrikadiert sein. Es kann natürlich zu verstärktem an der Tür Rütteln oder Aggressionen kommen. Erklären Sie, dass es sich um die Anordnung des Staatspräsidenten handelt, der sich darauf verlässt, dass sich alle an die Regeln halten und die Polizei auf die Einhaltung achten und im Fall Strafen verhängen wird.
Lenken Sie in Folge ab, indem Sie eine alternative Tätigkeit vorschlagen.
Das Licht im Flur davor sollte wenn möglich ausgeschaltet sein (Achtung: Sturzgefahr) und die Vorhänge zugezogen werden außer im WC, wo es immer brennen kann. In den Aufenthaltsräumen ohne Ausgang ins Freie sollten dafür alle Lichter eingeschaltet werden und die Temperatur sollte als angenehm empfunden werden.
Schwarze Fußabstreifer können ebenfalls als Barriere/Loch im Boden wahrgenommen werden und ein darauf oder darüber Steigen verhindern. Ebenfalls kann es helfen, auf der Ausgangstür ein Verbotsschild mit einem „Halt oder Ausgang gesperrt“ anzubringen.
Eine weitere Vorsichtsmaßnahme ist es, in allen Kleidungsstücken oder Handtaschen Zettel mit Namen und Telefonnummer/Adresse und der Diagnose als Demenzpatient oder Demenzpatientin unterzubringen.
Sollten Menschen mit Demenz abgängig sein, sind nach einer kurzen Suche der näheren Umgebung inklusive Nebengebäude, Keller etc. und Befragung der Nachbarn die lokale Polizei-Station zu verständigen. Beschreiben Sie die Situation und sagen Sie, seit wann die vermisste und schutzbedürftige Person (Name, Adresse, Diagnose, Alter) abgängig ist und wie sie zuletzt bekleidet war. Je früher die Sicherheitskräfte wissen, dass jemand vermisst wird, desto eher können sie suchen.
Belohnen Sie das Zuhause Bleiben oder Niedersetzen mit einer Zuwendung, einem Bonbon, einem Stück Schokolade.
Damit sich Personen mit Demenz zuhause wohler fühlen, regen Sie zu gemeinsamen Aktivitäten an: Singen, Tanzen, Tisch decken, Servietten falten, Zeitungen schlichten, Rosenkranzbeten, Haustiere versorgen, Fotos anschauen…
Räumen Sie alle möglichen Stolperfallen weg: Kabel, Teppiche
Telefonieren Sie mit dem Hausarzt oder der Hausärztin, ob im Fall ein beruhigendes Medikament verschrieben werden kann.